Montag, 14. Januar 2013

Die gute Medizin der Wildnis

Visionssuche als Weg zur Quelle der inneren Kraft und Freiheit


Nahezu jeder Mensch kommt irgendwann in seinem Leben an einen Punkt, an dem er sich fragt, wohin es gehen soll. Auch wenn wir in einer Welt voller Ablenkungen leben, unseren inneren Fragen ausweichen oder sie betäuben können: Irgendwann kommt unsere Lebensreise unweigerlich ins Stocken. Der Verlust der Arbeitsstelle, eine Scheidung, finanzielle Nöte oder der Tod eines geliebten Menschen lassen Risse in unseren Alltags-Masken entstehen, die nicht mehr zu verbergen sind. Oft schleppen wir Sorgen und Probleme jahrelang mit uns herum, agieren nicht mehr in der Welt, sondern reagieren nur noch aus unseren Ängsten oder aus unseren Schuldkomplexen heraus. Die Risse werden größer und alle Versuche, sie notdürftig zu reparieren, scheitern. Aus diesen Rissen strömt unsere Kraft ins Nirgendwo – es ist, als wäre ein verborgenes Ventil in unserem Inneren undicht, aus dem all unsere Energie langsam aber sicher versickert. 


Der Wunsch, wieder mit dieser Kraft in Verbindung zu kommen, von ihr erneut erfüllt zu werden, die innere Urkraft erneut zu spüren und durchdrungen von ihr festen Blickes unser Leben auf eine neue Spur zu bringen und zu meistern, wird immer stärker. Wo liegt unsere tiefste Leidenschaft, die diese Kraft nähren kann? Was ist unsere Vision für dieses Leben?

Unser Leben, unsere Biografie hat uns zu dieser Schwelle geführt – nun ist es an uns, diese Schwelle mitsamt unserer Verzweiflung, unserem Gefühl der Sinnlosigkeit oder unseren Versagensängsten zu überschreiten, um dieses Paket aus negativen Emotionen im Lichte der wahrhaftigen Begegnung mit uns selbst zu betrachten, zu verwandeln (oder besser: es verwandeln zu lassen!) und neu in unser Leben hinauszuschreiten. Es steht ein wichtiger Übergang an, der von Naturvölkern seit jeher rituell begleitet wird – eine Würdigung von Schwellenerfahrungen, die in unserer westlichen Gesellschaft leider oft fehlt.



„Gehe in die Wildnis, segne dich selbst und erfahre, was getan werden muss“ – dieser Satz steht am Beginn einer jeden Visionssuche und beschreibt Anfang, Mitte und Ziel dieses initiatorischen Weges. Ein Weg, der drei Stufen durchläuft, von denen die erste die Trennung darstellt. Zu gegebener Zeit lösen wir uns symbolisch von allen alten Bezügen und Kontakten, von allen Ansprüchen, die andere an uns stellen, von allen Ansprüchen, die wir an uns selbst stellen. Wir errichten einen persönlichen Altar und erklären unsere Absicht. Warum wollen wir an einem Übergangsritual teilnehmen? Was wollen wir für unser Leben erreichen?

Eine Schwitzhüttenzeremonie klärt unseren Geist. Dann erwartet uns der Beginn der Reise, die Medizinwanderung in der Wildnis, die unsere Sinne und unsere Seele öffnet. Die Wildnis empfängt uns, schenkt uns das Gefühl der bedingungslosen Zugehörigkeit, wirft uns auf uns selbst zurück und stellt uns die eine Frage, die uns zu unserer größten Weisheit führen kann: Was ist wirklich wesentlich in meinem Leben? 


Die zweite Stufe – die Schwelle – beginnt mit dem Überschreiten derselbigen. Wir gehen hinaus in den Bereich des wirklichen Übergangs: allein verlassen wir die Gruppe der anderen Visionssuchenden, ohne Nahrung, nur mit dem Nötigsten versorgt, verbringen wir vier Tage fastend in der Wildnis. Tag und Nacht sind wir auf unserem Platz, wir frieren, werden von der Sonne verbrannt und hungern, während die Natur zu uns spricht. Wolken geben uns Antwort, der Wind in den Bäumen wispert uns etwas zu, Tiere erscheinen, unsere Gedanken werden klarer und der innere Ursprung unseres Schmerzes wird uns bewusster. Etwas bricht uns auf, stürmt unsere Grenzen und unsere Abwehr. Sowohl die Wildnis als auch wir selbst prüfen und segnen uns. Der ursprüngliche Segen der Zugehörigkeit zu einer Welt voller Leben wird uns in der Erfahrung einer elementaren Ausgesetztheit gewahr und wir selbst segnen uns durch unser Einfinden in den Kreis des Seins. Uns wird klar: Alles um uns herum ist wichtig, ist Teil einer Natur, die ihren Sinn in sich selbst trägt, genau wie wir es tun. Wir sterben im Hinblick auf unsere vergangenen Überzeugungen und Meinungen über uns und die Welt, und werden wiedergeboren für eine bewusste Teilhabe an allem, was uns umgibt. Der Segen, den die Wildnis und wir selbst uns geben, erneuert unser Herz und öffnet unsere Augen.

Immer mehr kommt unser innerster Kern zum Vorschein: Manchmal unter Schmerzen und Tränen, manchmal mit großer Freude und einem Gefühl der unendlichen Weite. Die Wildnis entkleidet uns geistig, sie zieht uns die Schichten gesellschaftlicher Konventionen, oktroyierter Schein-Bedürfnisse und verbildeter Grübeleien ab und legt das frei, was wirklich in uns ist und dem wir fortan folgen können. 


Vier Tage Einsamkeit in der Wildnis konfrontieren uns mit unseren Schatten, unseren Grenzen, unseren Ängsten und auch unseren Möglichkeiten. Diese Form der Initiation verletzt und zeigt gleichzeitig die Stärke, die in dieser Wunde liegt – sie tötet und lässt aus diesem völligen Loslassen einen freien Menschen neu zur Welt kommen. Die gute Medizin der Wildnis wird in uns aufgenommen und verwandelt uns.

Steven Foster, einer der Gründerväter moderner Visionssuchen im Westen, nannte diese Medizin den „Heiligen Fluss“, an dessen Ufer der Initiand sitzt und in dessen Raunen er die Stimme seiner eigenen Vision, seiner eigenen Heiligkeit und der der Welt vernimmt. Dieses Raunen des Heiligen Flusses kann uns ganz erfüllen. Wir sind immer noch Teil einer vaterlosen Gesellschaft, die junge Menschen ohne Begleitung eines wirklichen Mentoren ins Leben springen lässt und die nach wie vor Menschen hervorbringt, die ihre Adoleszenz bis Ende vierzig ausweiten, doch wir sehen uns und die Welt mit anderen Augen. Wir haben in der Begegnung mit unserem geistigen Tod und unserer Wiedergeburt gelernt, das Unwichtige vom Wichtigen zu unterscheiden. Wir haben gelernt, unsere eigene Hebamme zu sein und unseren innersten Kern und unsere Vision für unser Leben zur Welt zu bringen. Der Abstand zur Welt, der sich in Zynismus oder Gefühlen der Sinnlosigkeit manifestiert, der unsere Verzweiflung ausmachte und der das Gewicht unserer Sorgen, Zweifel und Ängste immer erdrückender werden ließ, weicht einer wahrhaftigen Teilhabe am Leben voller Mitgefühl, Liebe, Dankbarkeit und einer inneren Sicherheit über unsere Aufgabe in der Zeit, die vor uns liegt.

Wir haben eine Schwelle überschritten -  sowohl symbolisch und rituell wie auch in unserem Inneren - hinter der eine veränderte Welt uns mit offenen Armen erwartet und uns bei unserem wahren Namen ruft. Wir werden uns unserer vollen Menschlichkeit bewusst, unserer Verletzlichkeit und unserer Stärke, wir sind offen für das Mysterium des Lebens, welches wir durch unser eigenes Dasein in unsere bekannte Welt einbringen müssen. Von hier gibt es keinen Schritt zurück, sondern nur nach vorn.


Auf der archetypischen Heldenreise unserer Visionssuche kommen wir in die dritte Stufe, die sogenannte Wiedereingliederung. Das Wiedersehen mit den anderen Visionssuchern ist zuerst still, von wissenden Blicken erfüllt, von strahlenden Augen, hohlwangigen Gesichtern, deutlich spürbarer innerer Bewegtheit. Die Berichte über das Erlebte kommen dann etwas später, sind innig, ehrlich, authentisch, zutiefst berührend. Echte Visionen für unser Leben, geteilt mit anderen und bald in unseren Alltag mit Beziehungen, Partnern, Kindern, Freunden, Arbeit und Kollegen eingebracht. Wir haben eine Vision geschenkt bekommen, die unser Inneres heil gemacht hat. Wir sind heil, weil wir etwas Heiliges erfahren haben, weil wir wissen, woher der Schmerz kommt und wie wir mit ihm umgehen können. Wir wissen, welche Aufgabe in der Welt auf uns wartet und welche Verantwortung wir gegenüber uns selbst, gegenüber unseren Nächsten und der Gesellschaft, in der wir leben, haben. Wenn uns dann die Menschen, die wir lieben, mit einem Fest zu unserer Rückkehr erwarten, begegnet ihnen ein neuer Mensch: Gestorben und wiedergeboren - frei zu sein, der er ist.


Dirk Grosser