Nahezu jeder Mensch kommt irgendwann in seinem Leben an einen Punkt, an
dem er sich fragt, wohin es gehen soll. Auch wenn wir in einer Welt voller
Ablenkungen leben, unseren inneren Fragen ausweichen oder sie betäuben können:
Irgendwann kommt unsere Lebensreise unweigerlich ins Stocken. Der Verlust der
Arbeitsstelle, eine Scheidung, finanzielle Nöte oder der Tod eines geliebten
Menschen lassen Risse in unseren Alltags-Masken entstehen, die nicht mehr zu
verbergen sind. Oft schleppen wir Sorgen und Probleme jahrelang mit uns herum,
agieren nicht mehr in der Welt, sondern reagieren nur noch aus unseren Ängsten
oder aus unseren Schuldkomplexen heraus. Die Risse werden größer und alle
Versuche, sie notdürftig zu reparieren, scheitern. Aus diesen Rissen strömt
unsere Kraft ins Nirgendwo – es ist, als wäre ein verborgenes Ventil in unserem
Inneren undicht, aus dem all unsere Energie langsam aber sicher versickert.
Der Wunsch, wieder mit dieser Kraft in Verbindung zu kommen, von ihr
erneut erfüllt zu werden, die innere Urkraft erneut zu spüren und durchdrungen
von ihr festen Blickes unser Leben auf eine neue Spur zu bringen und zu
meistern, wird immer stärker. Wo liegt unsere tiefste Leidenschaft, die diese
Kraft nähren kann? Was ist unsere Vision für dieses Leben?
Unser Leben, unsere Biografie hat uns zu dieser Schwelle geführt – nun
ist es an uns, diese Schwelle mitsamt unserer Verzweiflung, unserem Gefühl der
Sinnlosigkeit oder unseren Versagensängsten zu überschreiten, um dieses Paket
aus negativen Emotionen im Lichte der wahrhaftigen Begegnung mit uns selbst zu
betrachten, zu verwandeln (oder besser: es verwandeln zu lassen!) und neu in
unser Leben hinauszuschreiten. Es steht ein wichtiger Übergang an, der von
Naturvölkern seit jeher rituell begleitet wird – eine Würdigung von
Schwellenerfahrungen, die in unserer westlichen Gesellschaft leider oft fehlt.
„Gehe in die Wildnis, segne dich selbst und erfahre, was getan werden
muss“ – dieser Satz steht am Beginn einer jeden Visionssuche und beschreibt
Anfang, Mitte und Ziel dieses initiatorischen Weges. Ein Weg, der drei Stufen
durchläuft, von denen die erste die Trennung darstellt. Zu gegebener Zeit lösen
wir uns symbolisch von allen alten Bezügen und Kontakten, von allen Ansprüchen,
die andere an uns stellen, von allen Ansprüchen, die wir an uns selbst stellen.
Wir errichten einen persönlichen Altar und erklären unsere Absicht. Warum
wollen wir an einem Übergangsritual teilnehmen? Was wollen wir für unser Leben
erreichen?
Eine Schwitzhüttenzeremonie klärt unseren Geist. Dann erwartet uns der
Beginn der Reise, die Medizinwanderung in der Wildnis, die unsere Sinne und
unsere Seele öffnet. Die Wildnis empfängt uns, schenkt uns das Gefühl der
bedingungslosen Zugehörigkeit, wirft uns auf uns selbst zurück und stellt uns
die eine Frage, die uns zu unserer größten Weisheit führen kann: Was ist
wirklich wesentlich in meinem Leben?
Die zweite Stufe – die Schwelle – beginnt mit dem Überschreiten
derselbigen. Wir gehen hinaus in den Bereich des wirklichen Übergangs: allein
verlassen wir die Gruppe der anderen Visionssuchenden, ohne Nahrung, nur mit
dem Nötigsten versorgt, verbringen wir vier Tage fastend in der Wildnis. Tag
und Nacht sind wir auf unserem Platz, wir frieren, werden von der Sonne verbrannt
und hungern, während die Natur zu uns spricht. Wolken geben uns Antwort, der
Wind in den Bäumen wispert uns etwas zu, Tiere erscheinen, unsere Gedanken
werden klarer und der innere Ursprung unseres Schmerzes wird uns bewusster.
Etwas bricht uns auf, stürmt unsere Grenzen und unsere Abwehr. Sowohl die
Wildnis als auch wir selbst prüfen und segnen uns. Der ursprüngliche Segen der
Zugehörigkeit zu einer Welt voller Leben wird uns in der Erfahrung einer
elementaren Ausgesetztheit gewahr und wir selbst segnen uns durch unser
Einfinden in den Kreis des Seins. Uns wird klar: Alles um uns herum ist
wichtig, ist Teil einer Natur, die ihren Sinn in sich selbst trägt, genau wie
wir es tun. Wir sterben im Hinblick auf unsere vergangenen Überzeugungen und
Meinungen über uns und die Welt, und werden wiedergeboren für eine bewusste
Teilhabe an allem, was uns umgibt. Der Segen, den die Wildnis und wir selbst
uns geben, erneuert unser Herz und öffnet unsere Augen.
Immer mehr kommt unser innerster Kern zum Vorschein: Manchmal unter
Schmerzen und Tränen, manchmal mit großer Freude und einem Gefühl der
unendlichen Weite. Die Wildnis entkleidet uns geistig, sie zieht uns die
Schichten gesellschaftlicher Konventionen, oktroyierter Schein-Bedürfnisse und
verbildeter Grübeleien ab und legt das frei, was wirklich in uns ist und dem
wir fortan folgen können.
Vier Tage Einsamkeit in der Wildnis konfrontieren uns mit unseren
Schatten, unseren Grenzen, unseren Ängsten und auch unseren Möglichkeiten. Diese
Form der Initiation verletzt und zeigt gleichzeitig die Stärke, die in dieser
Wunde liegt – sie tötet und lässt aus diesem völligen Loslassen einen freien
Menschen neu zur Welt kommen. Die gute Medizin der Wildnis wird in uns
aufgenommen und verwandelt uns.
Steven Foster, einer der Gründerväter moderner Visionssuchen im Westen,
nannte diese Medizin den „Heiligen Fluss“, an dessen Ufer der Initiand sitzt
und in dessen Raunen er die Stimme seiner eigenen Vision, seiner eigenen
Heiligkeit und der der Welt vernimmt. Dieses Raunen des Heiligen Flusses kann
uns ganz erfüllen. Wir sind immer noch Teil einer vaterlosen Gesellschaft, die
junge Menschen ohne Begleitung eines wirklichen Mentoren ins Leben springen
lässt und die nach wie vor Menschen hervorbringt, die ihre Adoleszenz bis Ende
vierzig ausweiten, doch wir sehen uns und die Welt mit anderen Augen. Wir haben
in der Begegnung mit unserem geistigen Tod und unserer Wiedergeburt gelernt,
das Unwichtige vom Wichtigen zu unterscheiden. Wir haben gelernt, unsere eigene
Hebamme zu sein und unseren innersten Kern und unsere Vision für unser Leben zur
Welt zu bringen. Der Abstand zur Welt, der sich in Zynismus oder Gefühlen der
Sinnlosigkeit manifestiert, der unsere Verzweiflung ausmachte und der das
Gewicht unserer Sorgen, Zweifel und Ängste immer erdrückender werden ließ,
weicht einer wahrhaftigen Teilhabe am Leben voller Mitgefühl, Liebe,
Dankbarkeit und einer inneren Sicherheit über unsere Aufgabe in der Zeit, die
vor uns liegt.
Wir haben eine Schwelle überschritten -
sowohl symbolisch und rituell wie auch in unserem Inneren - hinter der
eine veränderte Welt uns mit offenen Armen erwartet und uns bei unserem wahren
Namen ruft. Wir werden uns unserer vollen Menschlichkeit bewusst, unserer
Verletzlichkeit und unserer Stärke, wir sind offen für das Mysterium des
Lebens, welches wir durch unser eigenes Dasein in unsere bekannte Welt einbringen
müssen. Von hier gibt es keinen Schritt zurück, sondern nur nach vorn.
Auf der archetypischen Heldenreise unserer Visionssuche kommen wir in die
dritte Stufe, die sogenannte Wiedereingliederung. Das Wiedersehen mit den
anderen Visionssuchern ist zuerst still, von wissenden Blicken erfüllt, von
strahlenden Augen, hohlwangigen Gesichtern, deutlich spürbarer innerer
Bewegtheit. Die Berichte über das Erlebte kommen dann etwas später, sind innig,
ehrlich, authentisch, zutiefst berührend. Echte Visionen für unser Leben,
geteilt mit anderen und bald in unseren Alltag mit Beziehungen, Partnern, Kindern,
Freunden, Arbeit und Kollegen eingebracht. Wir haben eine Vision geschenkt
bekommen, die unser Inneres heil gemacht hat. Wir sind heil, weil wir etwas
Heiliges erfahren haben, weil wir wissen, woher der Schmerz kommt und wie wir
mit ihm umgehen können. Wir wissen, welche Aufgabe in der Welt auf uns wartet
und welche Verantwortung wir gegenüber uns selbst, gegenüber unseren Nächsten
und der Gesellschaft, in der wir leben, haben. Wenn uns dann die Menschen, die
wir lieben, mit einem Fest zu unserer Rückkehr erwarten, begegnet ihnen ein
neuer Mensch: Gestorben und wiedergeboren - frei zu sein, der er ist.
Dirk Grosser